58 Jahre
Der
Chronist schilderte 1938 wie glücklich die Bewohner
des
Sudetenlandes waren als sie von den Schikanen und
Demütigungen
seitens der tschechischen Machthaber befreit wurden.
Die Freude
währte , zumindest für den nüchternen Betrachter,
nicht lange.
Denn so wie der Schreiber vor 1938 um Repressalien
zu vermeiden nur
lobend über Staat und Regierung schreiben durfte, so
musste er jetzt
jede Kritik an der neuen Obrigkeit vermeiden. Wir
waren in einer
Diktatur gelandet, welche jede unliebsame Äußerung
bestrafte.
Doch dieser sinnlose Krieg forderte von unserer Gemeinde einen hohen Blutzoll. Fast die Hälfte der oben genannten Männer kehrten nicht mehr zurück. Es waren dies:
Immer näher kam die Front. Schon Anfang 1945 hörten wir täglich Kanonendonner. Unser derzeitiger Schulleiter war Herr Arthur Siebert, ein Lehrer aus Berlin, der mit Berliner Kindern wegen der massiven Luftangriffe in unsere Gegend kann. Er führte auch die Schulchronik gewissenhaft weiter und schilderte treffend die letzte Zeit in Reigersdorf. Deshalb möchte ich den letzten Teil seiner Aufzeichnungen wörtlich wiedergeben: „
Mit
Beginn des Jahres 1945 machte sich der Krieg auch in
unserem
Gebiet immer mehr bemerkbar. Schon im letzten Teil
des vorigen Jahres
war vom Führer der Volkssturm aufgerufen worden, dem
alle Männer
von den jüngsten bis zu den alten Jahrgängen
angehörten. Sie
wurden in Zivilkleidung neben ihrem Beruf, meist an
den Sonntagen
ausgebildet, um gegebenenfalls an der Front, bzw. in
der Heimat zur
Verteidigung eingesetzt zu werden. Als dann zu
Beginn des neuen
Jahres die Russen unerwartet schnell in Ostpreußen
einbrachen und
über Polen bis nach Schlesien vordrangen, mußte auch
unser Gebiet
und unser Ort kriegsmäßig umgestaltet werden.
Überall wurden in
unserem Kreis in Stadt und Dorf, auch in unserem
Ort,unsinnige
Panzersperren gebaut, und auf den großen Feldern an
der Reichsstraße
nach Bärn wurden tiefe und breite Panzergräben von
den Einwohnern
der umliegenden Orte in täglichem Schanzdienst
errichtet. Zum
Schutze des Ortes musste für jede Nacht ein
Nachtdienst eingerichtet
werden. Feindliche Flieger überflogen oft unser
Gebiet. Unterwegs
war man in Gefahr, von ihnen mit Bordwaffen
beschossen zu werden.
Wegen der Luftgefahr mußte auch unsere Schule
luftschutzmäßig
eingerichtet werden. Zum "Selbstschutz" stehend,
sollte sie
sich im Fall eines Fliegerangriffes selbst
schützen.
In
der
Mitte des Jahres 1944 mehrten sich di Anzeichen für
das Ende des
Krieges. Aus dem Osten rückt die Front immer näher.
Ich war ab 1944
in Söhle bei Neutitschein in der Haushaltungsschule.
Schon im
November und Dezember 1944 kamen Flüchtlinge aus dem
schlesischen
und oberschlesischen Raum. Niemand will wahrhaben,
dass es dem Ende
zugeht. Denn mit dem verlorenen Krieg steht das
Schreckgespenst der
russischen Besatzung im Raume. Ende Januar 1945 der
erste
Fliegeralarm in Neutitschein. Alles ist verschreckt
und verstört.
Schülerinnen reisen ab. Nach einigen Tagen stimmen
wir ab. Auf allen
lastet ein schwerer Druck, man weiß nicht, was die
Zukunft bringen
wird. Man kann nur ahnen, dass Schreckliches auf uns
zukommt. Anfang
März fahre ich zurück nach Söhle. Es kommen nur noch
10
Schülerinnen. Wir bleiben noch über Ostern, machen
die letzten
Prüfungsarbeiten. Eine Lehrerin mit Kind ist bereits
abgereist, wir
sind nur noch mit der Direktorin Frau Köstler allein
im Haus. Die
Front rückt näher, bei Mährisch-Ostrau wird bereits
gekämpft. In
Reigersdorf sind bereits ganze Trecks mit
Flüchtlingen angekommen.
Sie stammen aus Hedwigsgrund im oberschlesischen
Gebiet.Es wird das
Nebenstüberl geräumt und eine Familie mit zwei
Kleinkindern und den
Großeltern ziehen ein. Sie sind mit einem Kuhgespann
angekommen. Der
April geht zu Ende. Die Russen rücken weiter vor. In
den ersten
Maitagen hören wir öfters den Kanonendonner aus
Richtung Troppau,
wo sich bereits die Front befindet. Die Russen
können noch einmal
zurückgeworfen werden, aber das Ende zeichnet sich
ab. Das
Kuhländchen wird überrollt. Täglich fahren
Wehrmachtsautos durch
das Dorf, sie sind auf dem Rückmarsch. Manchmal
bleiben sie über
Nacht, oder essen sich nur voll und weiter geht die
Fahrt. Die
Soldaten erzählen, dass sie keine Munition mehr
haben, aber der
Wille zum Widerstand ist noch lebendig. Vater hat
auch für uns einen
Leiterwagen für die evtl. Flucht vorbereitet. Das
Dorf wird noch für
einen Treck eingeteilt. Familien ohne Gespann werden
den einzelnen
Bauern zugeteilt. Die Koffer stehen gepackt. Keiner
kann es sich
vorstellen, dass wir wirklich wegfahren müssen und
alles im Stich
lassen sollen. Es ist ein unwirkliches Gefühl,
richtig erfassen kann
keiner diese Ausnahmesituation Feldküche bedienten,
packen ein und
fahren weg in Richtung Altvater. Dieser Weg über den
Berggeist ist
der einzige Ausweg aus dem Kessel. Die Russen kamen
nicht direkt aus
Richtung Troppau, sondern waren abgebogen und kamen
nun auch aus
südöstlicher Richtung. Den ganzen Abend und die
ganze Nacht zogen
nun die Trecks durch unser Dorf in Richtung Lobnig.
In dieser Nacht
zogen auch die Gundersdorfer durch, manche mit
Kuhgespann. Die
schmalen Straßen waren bald verstopft. Wir haben
dreimal den Wagen
auf- und abgeladen, Vater konnte sich nicht zum
Losfahren
entscheiden. Er sagte: "Wenn ich an den Lobniger
Wald denke, und
dass dann auch noch die Hofer, die Christdorfer und
Rautenberger
kommen, kann ich mir nicht vorstellen , dass das gut
ausgeht."
Einige Bauern kamen und fragten was sie machen
sollen. Vater sagte:
"Ich bleibe da, wenn es uns treffen soll, dann
lieber daheim,
als im Straßengraben." Die anderen schlossen sich
dieser
Meinung an, und so blieb das ganze Dorf daheim.
Später sollte sich
herausstellen, dass es die einzige richtige
Entscheidung war. Die
Russen haben uns später erzählt, dass wir das erste
Dorf waren aus
dem niemand mehr geflüchtet war. Gegen Abend kam
noch ein
Wehrmachtsauto durch das Dorf. Sie hatten einen
toten Soldaten dabei
den sie noch auf dem Friedhof begruben. Geschlafen
haben wir in
dieser Nacht nicht. Samstagmorgen herrschte völlige
Ruhe. Die Stille
wirkte unheimlich. Niemand traute sich aus dem Haus.
Ein Hund bellte
nur in Krumpholzens Wäldchen. Wir hatten ein Gefühl,
als ob ein
schwerer Sturm vorüber wäre. Wir hatten keine Ahnung
wie die Lage
war. Unser Flüchtling brauchte Brot und so fuhr er
nach Christdorf
zum Bäcker. Er kam zurück mit der Kunde, das Dorf
ist völlig leer,
das Vieh steht in den Wiesen. Gegen Mittag fährt ein
Motorrad mit
zwei Russen durch das Dorf. Am oberen Ende des
Dorfes hat jemand auf
einem Straßenbaum eine weiße Fahne gehisst. (Es war
dies Fr. I.
Hampel). Ein Aufklärungsflugzeug dreht wieder ab. Am
Montag kamen
die ersten Russen ins Dorf . Glücklicherweise war es
eine
Versorgungskompanie. Der Chef, ein Oberleutnant,
erlaubte den
Soldaten keine Übergriffe. Er sprach auch etwas
deutsch, so war eine
Verständigung möglich. Zuerst wurden alle
Fremdarbeiter
zusammengerufen und ausgefragt, wie sie von den
Deutschen behandelt
worden waren. Scheinbar war das Ergebnis gut, denn
der Oberleutnant
verhielt sich sehr korrekt. Er war bei uns
eingezogen, aber allein,
ohne jeden anderen Soldaten. Der Rest der Kompanie
wurde auf
verschiedene Bauernhöfe aufgeteilt, deren Bewohner
aber alle aus dem
Haus mussten. So kam es, dass bei uns bis 50
Personen auf dem Hof
waren. Die meisten schliefen auf den Heuböden. Die
oberschlesischen
Flüchtlinge machten sich wieder auf den Heimweg. Es
ist nur die
Frage, wie weit sie gekommen sind, bis man ihnen die
Pferde und Kühe
weggenommen hat. Das Vieh wurde aus den Ställen
getrieben und kam
auf die große Wiese hinter Krumpholzens Hof. Zu
dieser Zeit gab es
im Dorf etwa 240 Milchkühe. Jede Familie durfte nur
eine Kuh
behalten. Die Frauen und Mädchen mussten zum Melken
gehen. Die
Russen zentrifugierten die Milch und machten Butter
daraus. Jeden Tag
gingen einige Kühe ein. Sie hatten Maul- und
Klauenseuche bekommen,
. Als man das Vieh nach einigen Wochen nach Russland
trieb, war nicht
mehr viel davon übrig. Als Viehtreiber mussten ein
paar halbwüchsige
Buben mitgehen. Sie kamen bis nach Mährisch-Ostrau.
Dort türmten
sie und kamen zu Fuß heim. Die Schweine und Hühner
hatten
inzwischen die Russen verspeist. Die Pferde waren
auch abgeholt
worden. In der nachfolgenden Zeit Juni bis August
ging niemand allein
aufs Feld. Die Russen lauerten den Frauen auf und
vergewaltigten sie,
obwohl es schon verboten war. Russen aus anderen
Dörfern kamen und
klauten was noch übriggeblieben war. Die Erntezeit
kam heran und nun
musste die ganze Arbeit mit der einen Kuh, der wir
Ziehen gelehrt
hatten, getan werden. Später bekamen wir noch ein
kleines blindes
Pferd dazu, das ein Russe stehen ließ. Trotz aller
Widrigkeiten kam
die ganze Ernte heim. Aber nur, um sie später an die
Tschechen
kostenlos abzuliefern. Zwei tschechische Kommissare
kamen ins Dorf.
Zwei Familien und drei Männer wurden in das Innere
der Tschechei
geschafft, um dort zu arbeiten. Die ersten
Tschechen, die neuen
Hausbesitzer, kamen an. Suchten sich aus welcher Hof
ihnen am besten
gefiel. Die deutschen Besitzer mussten ins
Ausgedinge ziehen. Im
Januar 1946 hörten wir die ersten Gerüchte über die
Vertreibung
aller Deutschen. Wir wollten es nicht glauben, und
doch wurde es
Wahrheit. Da wir ja kein Radio hören konnten waren
wir nicht über
die weltpolitischen Ereignisse informiert. Und was
wir hörten
wollten wir nicht glauben. Anfang März 1946 bekamen
die ersten
Familien die Papiere über die Zwangsausweisung
zugestellt. Es waren
50 Personen, die am 31.03.1946 abfuhren. Auch jetzt
rechneten wir
noch mit einer baldigen Rückkehr. Oft wurden noch
Wertsachen
versteckt oder vergraben in der Hoffnung, dieselben
nach der Rückkehr
wiederzufinden. Doch es kam anders. (soweit der
Bericht von Fr.
Hartel) Auch mein Vater konnte offenbar nicht
glauben dass man die
Einwohner eines ganzen Landes vertreiben kann. Denn
noch 1945,
nachdem etwas Ruhe eingekehrt war, begannen wir
unseren 2 Kühen,(Die
Russen hatten uns seltsamer Weise 2 gelassen) welche
uns die Russen
belassen hatten, das Ziehen beizubringen, was auch
ganz gut klappte.
So wurde die Ernte eingebracht und auch die
Herbstsaat getätigt.
Auch der fast leere Kuhstall fing an sich langsam
wieder zu füllen.
Hatten uns doch die Russen nebst den beiden Kühen
auch ein paar
Kälber belassen. Doch schon im Frühjahr 1946 trat
das
"Unglaubliche" ein. Auf unserem Hof erschien ein
Tscheche,
Prahař mit Namen und wir mussten unser seit Langem
leerstehendes
Austragshaus, das eigentlich nur noch als
Brennholzlager diente,
beziehen. In einem Raum hatte sich mein älterer
Bruder, er war
Tischler, eine kleine Hobby-Werkstatt eingerichtet.
Das war jetzt
unser Schlafzimmer. Ich war eigentlich noch nicht
aus der Schule
entlassen. Durfte aber, so wie alle anderen
deutschen Schüler keine
Schule besuchen. Aus Reigersdorf wurden sämtliche
Einwohner
vertrieben, kein Einziger durfte bleiben. Die
letzten welche unser
Dorf verließen, waren wahrscheinlich Kluger Josef,
Herta Jeckel sen.
und Tochter Herta, Sohn Ferdinand und Familie
Roßmanith.
Der Abschied fiel uns allerdings nicht allzu schwer. Waren wir doch enteignet und in unseren Häusern waren Tschechen eingezogen. Was wollte auch ein Bauer noch im Dorf dem man das Haus sowie Grund und Boden weggenommen hatte. In anderen Teilen des Sudetenlandes und ganz besonders in den zweisprachigen Gebieten und in der Tschechei selbst kam es in dieser Zeit zu furchtbaren Ausschreitungen gegenüber den Deutschen mit vielen Toten. Die Deutschen waren rechtlos. Jeder Tscheche durfte deutsche Männer, Frauen, aber auch Kinder umbringen so viel er wollte. Er brauchte keine Strafe zu fürchten. Die tschechischen Emigranten, besonders der in London lebende Herr Beneš schürte einen tiefen Hass gegen die Sudetendeutschen. Seine von ihm stammenden sogenannten "Benešdekrete" bildeten die rechtliche Grundlage für ihr makabres Treiben. Wir hatten keine Toten zu beklagen. Lediglich ein 15jähriger Junge, Kalig Josef jun., er wurde von seiner Mutter einen Tag vor Einmarsch der Russen nach Altliebe geschickt, um in der Flachsschwingerei noch ihren Arbeitslohn abzuholen, kehrte nicht mehr zurück. Er wurde weder tot noch lebendig wiedergefunden und ist seither vermisst. Die Vertreibung selbst ging folgendermaßen vonstatten: In Abständen von 14 Tagen bis mehreren Monaten wurde vom hiesigen Kommissar Stolař ein Transport zusammengestellt. Dies waren in der Regel zirka 30 Personen, welche zuerst nach Bärn in das "Lager" gebracht wurden. Pro Person durften wir 70 kg Gepäck mitnehmen. Zusätzlich noch etwas Handgepäck. Nun wurden natürlich sämtliche Sachen durchsucht und Wertgegenstände und Geld, wenn man es fand, einbehalten. Einige Tage später ging es dann zum Bahnhof in die bereitstehenden Viehwaggons. Der Abschied von der Heimat fiel uns nicht allzu schwer, waren wir doch längst aus unseren Wohnungen vertrieben und mussten zum Teil in leerstehenden Austragshäusern oder anderswo hausen. Trotzdem hofften wir immer noch dass die Trennung von Haus und Hof nur von kurzer Dauer sein wird. Als wir in der Abschiedsandacht in der Kirche "in die Welt hinaus ins Leben...."sangen ahnten wir immer noch nicht dass es in dieser unseren Kirche kein Wiedersehen mehr geben wird. Wir Jungen verspürten natürlich auch ein wenig Abenteuerlust.
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